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The National Library of Ireland - James Joyce and Oliver St. John Gogarty

Thomas W. Lyster had been director of the National Library of Ireland since 1895. He was famous for his researches about Johann Wolfgang von Goethe, and translated H. Düntzer's biography about the German poet into English. Lyster edited the anthology ‚English Poems for Young Students' – and became a key figure in the most important 20th century novel: "Ulysses", by James Joyce. In his article for the German "Literaturblatt", Rainer Pörzgen describes the library and its characters, and compares fiction with reality.
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Rainer Pörzgen


Thomas W. Lyster had been director of the National Library of Ireland since 1895. He was famous for his researches about Johann Wolfgang von Goethe, and translated H. Düntzer’s biography about the German poet into English. Lyster edited the anthology ‚English Poems for Young Students’ – and became a key figure in the most important 20th century novel: “Ulysses”, by James Joyce. There, in Lyster’s „office“ at the National Library of Ireland, Stephen Dedalus meets librarians and authors like Richard Best, who became Lyster’s successor, Assistant Librarian William Kirkpatrick Magee, the poet and painter George William Russell, and Buck Mulligan, for whom Joyce found a model in early 20th century Ireland: Oliver St. John Gogarty, Irish politician and author of “As I Was Going Down Sackville Street”. Joyce’s and Gogarty’s characters both visit the National Library in Dublin. In his article for the German “Literaturblatt”, Rainer Pörzgen describes the library and its characters, and compares fiction with reality.

„Urban, sie zu trösten, schnurrte der Quäker-Bibliothekar:
Aber wir haben dann ja, nicht wahr, die unschätzbaren Seiten des Wilhelm Meister".

So beginnt das neunte Kapitel des ‚Ulysses’ von James Joyce. Das Kapitel hat im Roman eine zentrale Stellung, nicht nur, weil es als neuntes von insgesamt achtzehn nicht zufällig in der Mitte des Buches angesiedelt ist. Die zentrale Bedeutung zeigt sich vor allem in der Diskussion von Stephen Dedalus mit Vertretern des literarischen Irlands der damaligen Zeit, in der das gesamte Buch tragende Motive angesprochen werden. Joyce-Enthusiasten zitieren die Kapitel unter den im Vorabdruck verwendeten Titeln mit Bezügen auf Homers ‚Odyssee’, die allerdings vom Autor in die Buchausgabe von 1922 nicht übernommen worden sind. Dieses Kapitel wird als Skylla-und-Charybdis-Episode bezeichnet. Um das Durchfahren einer Engstelle zwischen einander scheinbar unversöhnlich gegenüber stehenden Positionen wie in der Auseinandersetzung zwischen platonischer und aristotelischer Philosophie geht es darin. Stephen Dedalus erläutert am Beispiel von Shakespeares ‚Hamlet’, worum es im ‚Ulysses’ wie im ‚Hamlet’ geht: um Verrat, um Ehebruch, um die Suche des Sohnes nach dem Vater wie des Vaters nach dem Sohn. Die Bedeutung dieser Ausführungen wird unterstrichen dadurch, dass sie bereits in der ersten Episode von Buck Mulligan angekündigt werden, wenn auch spöttisch gegenüber Haines:

„Er weist per Algebra nach, daß Hamlets Enkel Shakespeares Großvater ist und er selber der Geist seines eigenen Vaters.“

Den Quäker-Bibliothekar gab es wirklich: Thomas W. Lyster war Bibliothekar an der National Library of Ireland, von 1895 an ihr Direktor. Er war zugleich ein ausgewiesener Goethekenner, hatte die Goethe-Biographie von H. Düntzer ins Englische übersetzt. Außerdem war er Herausgeber der Anthologie ‚English Poems for Young Students’. Auch Joyce benutzte sie. In dessen Dienstzimmer lässt er ein fiktives Treffen Stephen Dedalus’ mit Bibliothekaren und Schriftstellern stattfinden. Neben Lyster sind das sein Stellvertreter und späterer Nachfolger Richard Best, der Assistant Librarian William Kirkpatrick Magee, der unter dem Pseudonym John Eglinton Essays veröffentlichte, sowie der Dichter und Maler George William Russell mit dem Künstlernamen AE. Wie sie ihre Einbindung in diese Episode aufgenommen haben, ist nur von einem bekannt – Richard Best soll später einen Fernsehmann der BBC angeherrscht haben: „Was läßt Sie vermuten, gerade ich hätte eine Beziehung zu diesem Joyce?“, um dann, darauf angesprochen, dass er immerhin eine Figur des ‚Ulysses’ sei, hinzuzufügen:

„Ich bin keine Romanfigur. Ich bin ein lebender Mensch.“

Der Raum, in dem sich die fünf, später sechs Männer treffen, ist nicht als Bibliotheksraum zu erkennen. Erst als Stephen Dedalus und Buck Mulligan die Bibliothek verlassen, wird diese räumlich fassbar. Der Weg hinaus führt durch zunächst durch den Lesesaal, dann müssen die beiden ein Drehkreuz passieren, sie gelangen in eine "besäulte maurische Halle" und durchschreiten schließlich den "Portikus" - die Vorhalle, in der sich die Leser sporadisch trafen, um zu tun, was man drinnen nicht durfte: sich zu unterhalten und zu rauchen.

Des Lesesaals der Nationalbibliothek ist James Joyce selbst einmal verwiesen worden. Er traf dort seinen Freund Byrne, den Cranly seiner Romane, beim Lesen des Buches „A Treatise on the Diseases of the Ox“ von J. H. Steel an, was bei ihm einen solchen Lachanfall auslöste, dass der Library Attendant ihn zu gehen aufforderte. Im Buch „Ein Porträt des Künstlers als junger Mann“ liest sich das so:

„Cranly saß drüben bei den Diktionären. Ein dickes Buch, dessen Titelseite aufgeschlagen war, lag vor ihm auf der Holzstütze. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und neigte wie ein Beichtiger sein Ohr dem Gesicht eines Medizinstudenten, der ihm aus der Schachseite einer Zeitung eine Aufgabe vorlas. Stephen setzte sich rechts von ihm hin und der Priester an der anderen Seite des Tisches klappte seine Nummer des Tablet mit einem zornigen Knall zu und stand auf.

Cranly sah ihm milde und abwesend hinterdrein. Der Medizinstudent fuhr leiser fort:
Königsbauer zwei Schritt vor.

Wir gehen lieber, Dixon, sagte Stephen warnend. Der ist sich beschweren gegangen.
Dixon faltete die Zeitung zusammen, erhob sich mit Würde und sagte:

Unsere Männer retirierten in geordneten Reihen.

Mit Kanonen und Rinderbestand, fügte Stephen hinzu und zeigte auf die
Titelseite von Cranlys Buch, auf der Krankheiten des Rindes stand.

Auch über die Arbeit der Bibliothekare erfährt der Leser wenig. Zunächst wird der Direktor der Bibliothek als gebildeter Diskussionsteilnehmer eingeführt. Umso erstaunlicher ist es dann, dass er mehrmals herausgerufen wird, nicht etwa sein ebenfalls anwesender Stellvertreter oder der Assistant Librarian, zuletzt, um dem Anzeigenakquisiteur Leopold Bloom ältere Zeitungsausgaben zugänglich zu machen:

„Da ist ein Herr draußen, Sir, sagte der Diener, indem er näherkam und eine Karte überreichte. Vom Freeman. Er möchte gern das Kilkenny People einsehen, die Bände vom letzten Jahr.

Gewiß, gewiß, gewiß. Ist der Herr ... ?

Er nahm die eifrige Karte, warf einen Blick darauf, sah nicht, legte nieder, unbesehen, blickte, fragte, knarrte, fragte:

Ist er ...? Ah, da!

In flotter Galliarde war er auf und hinaus. Im taglichten Flur sprach er mit redseligem Eifer, ganz Pflichterfüllung, höchst artig, höchst freundlich, höchst ehrenwerter Quäkerhut.“

Der Autor James Joyce scheint auf den ersten Blick mit den Arbeitsabläufen und Zuständigkeiten in der Bibliothek nicht vertraut gewesen zu sein. Andererseits kann man davon ausgehen, dass er Benutzer der National Library of Ireland war und diese gekannt haben musste. Bleibt zu vermuten, dass der Autor sich weniger an den Gepflogenheiten der Bibliothek orientiert hat, sondern einer erzählerischen Notwendigkeit gerecht werden musste. Der Roman „Ulysses“ schildert den Verlauf des 16.Juni 1904 zweier Dubliner, des jungen Intellektuellen und Schriftstellers Stephen Dedalus und des schon in die Jahre gekommenen Anzeigen-Akquisiteurs Leopold Bloom, vom Frühstück bis in die späte Nacht. Beide beginnen den Tag weit voneinander getrennt und nähern sich von Kapitel zu Kapitel immer mehr, bis sie am späteren Abend aufeinander treffen, man kann sagen: sich finden. Das Herausrufen des Direktors aus der Diskussionsrunde mit Stephen Dedalus, um Leopold Bloom zu helfen, ist dem Autor das Mittel, den Stand der Annäherung der beiden aufzuzeigen.

Für die Romanfigur Buck Mulligan, neben Stephen Dedalus sozusagen der einzige erfundene Teilnehmer der Diskussion in dieser Episode des ‚Ulysses’, gab es ein Vorbild: Oliver St. John Gogarty. Am 17. August 1878 in Dublin geboren starb er am 22. September 1957 in New York. Gogarty unterstützte als Protestant den von Arthur Griffith und Michael Collins ausgehandelten Kompromiss, der unter Ausschluss der sechs Provinzen im Nordosten der Insel zur Gründung des irischen Freistaates führte. Damit brachte er radikale Nationalisten gegen sich auf. Eine Anekdote berichtet, dass Gogarty 1922 als Abgeordneter des irischen Parlaments von der IRA gefangen genommen wurde und als Verräter erschossen werden sollte, sich aber als trainierter Sportler der Hinrichtung entziehen konnte, indem er seinen Bewachern seinen Pelzmantel überwarf und sich durch einen kühnen Sprung in die Liffey rettete. Aus Dankbarkeit ließ er später ein Paar Schwäne auf dem Fluss frei, wessen er wiederum in dem Gedicht „An Offering of Swans“ (1923) gedachte. Das nicht allzu umfangreiche schriftstellerische Werk umfasst Prosatexte und Gedichte, darunter zahlreiche Spott- und zotige Lieder.

Das Buch „As I Was Going Down Sackville Street“ erschien zuerst 1937 in London. In diesem autobiographisch gefärbten Bericht lässt uns Gogarty ebenfalls einen Blick in die National Library of Ireland und auf ihren Bibliotheksdirektor werfen. Der Erzähler betritt mit seinem Begleiter die Bibliothek, und gleich wird der Lesesaal atmosphärisch erfahrbar:

Der große Lesesaal war fast leer. Zwei Medizinerinnen hatten ihre blonden Köpfe zusammengesteckt und studierten Grays Anatomie; sie bebten vor unterdrückter Heiterkeit. Ihnen gegenüber saß, umgeben von kleinen Würfeln, auf die in großen Buchstaben „RUHE“ gedruckt war, ein Geistlicher mit einem feuerroten, cherubinischen Gesicht. Von Zeit zu Zeit, in regelmäßigen, dem höchsten Druck und der stärksten vom Zorn auf seinem Gesicht erzeugten Rötung entsprechenden Abständen zischte er ein „Pst!“ hervor wie entweichenden Dampf.

[...]

Eine rotnasige kleine Ratte von einem Mann mit rußigen Augen, der einen langen, verschossenen Überzieher als Hemd, Weste und Jacke trug und sich gerade gesetzt hatte, blickte auf und echote „Pst!“

Doch bevor die beiden die Bibliothek gleich wieder verlassen können, werden sie von dem auch hier namentlich genannten Thomas W. Lyster zu einem Gespräch in sein Büro gebeten, das allerdings zu einem Monolog des Bibliothekars gerät. Der Bibliotheksleiter berichtet darin von seiner Arbeit: die Studenten seien "führungslos“ in ihrer Lektüre; weshalb er seine Aufgabe darin sehe, ihnen Orientierung zu geben:

Ein Maschinenbaustudent füllt ein Formular aus für Stotts Buch über Belastung und Druck. Was für seltsame und ständig einsilbige Namen diese Schriftsteller haben! Hier flechte ich ein: ‚Darf ich Ihnen [...] dieses sehr passende Gedicht von Kipling empfehlen? Nach seiner Lektüre, - davon bin ich fest überzeugt – werden Sie keine Zeit und keine Lust mehr haben, sich nur für Druck zu interessieren.’ [...] Welches Buch über Maschinenbau könnte uns dieselbe Befriedigung geben?“

Und einem angehenden Arzt schlägt er anstelle medizinischer Fachbücher die Werke des Paracelsus vor:

[...], muß ich ihn von der phantasielosen Seite seiner medizinischen Arbeit abwenden und ihn in die höheren Bereiche und romantischen Gefilde dieses großen und edlen Berufes einführen. Rose und Carless über die Chirurgie oder Osler über die Medizin! Das eine oder das andere von diesen Büchern ist alles, was er als repräsentativ für die jahrtausendelange, große Tradition der Medizin ansieht. Was tun unsere Pädagogen? Welche Verantwortung werden sie zu übernehmen haben, wenn sie die Welt der Phantasie von sich weisen und die Medizin zu einer empirischen Wissenschaft degradieren: Sie trennen den Menschen vom Universum, von einem gestirnten Ziel.

Ob er nun "kleinen uniformierten Studenten, die Bankangestellte werden wollen" die Lyrik Robert Brownings empfiehlt oder einem suspendierten Priester eine Sammlung von Ketzerschriften nahe legt, es schien schwierig zu sein, in dieser Bibliothek ein gewünschtes Buch zu bekommen. Während Joyce die bibliothekarische Arbeit aus sozusagen erzähltechnischer Notwendigkeit der Erzählung unterwarf, geht es Gogarty darum, in der Figur des Bibliothekars einen weiteren skurrilen Dubliner Typen darzustellen. Und indem er z. B. Lyster Studenten auf der Suche nach Studienliteratur Lyrik empfehlen lässt, würdigt und persifliert er ihn zugleich als Herausgeber der bereits erwähnten Anthologie „English Poetry for Young Students“.

Lakonisch und ein wenig abrupt beendet der Erzähler die Szene im Arbeitszimmer des Bibliotheksdirektors mit dem kurzen Satz:

"Schließlich entkamen wir".

The article was published in „Literaturblatt 1/2010“, and is presented here by permission of the author Rainer Pörzgen and the editor Irene Ferchl. Thank you very much.

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