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Buchkunst des frühen 20. Jahrhunderts in Deutschland: Interview mit Dr. Jürgen Franssen, Heidelberg (German language)

Die Ausstellung "Wie ein fruchtbarer Regen nach langer Dürre" läuft noch bis Februar 2019 an der Universitätsbibliothek Heidelberg. Vor 100 Jahren kam es in der Buchherstellung und -gestaltung zu zahlreichen Neuanfängen und Wiederentdeckungen, die maßgeblichen Einfluss auf die moderne Typographie hatten. Die Entstehung und Ausprägung der Buchkunstbewegung vor allem in Deutschland in der Zeit um 1900 bis in die 1930er Jahre ist das Thema der Ausstellung. Die Universität sprach mit Kurator, Dr. Jürgen Franssen.
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Wie kamen Sie auf die Idee zu der Ausstellung „‘Wie ein fruchtbarer Regen nach langer Dürre…‘ Buchkunst des frühen 20. Jahrhunderts in Deutschland“, die ab dem 9. Mai in den Ausstellungsräumen der UB zu sehen sein wird?

Zu der Idee bin ich über verschiedene Wege gekommen. Zum einen beschäftige ich mich selbst seit einigen Jahren mit dem traditionellen Buchdruck und Bleisatz und dadurch auch mit Schriften und der Buchkunstbewegung des frühen 20. Jahrhunderts. Über die Website der Universitätsbibliothek Heidelberg bin ich auf eine Fülle von digitalisierten Beständen zu diesem Thema gestoßen. In den Jahren um 1900 wurden Diskussionen über die Zukunft des Buches und des Buchgewerbes geführt, wie sie heute noch hoch relevant sind. Bei einem Praktikum 2016 in der Offizin Haag Drugulin in Dresden und bei einem Besuch bei Dr. Wolfram Benda, dem Inhaber der Bear Press in Bayreuth, der mir seine umfangreiche Sammlung an Pressendrucken zeigte, ist dann die Idee entstanden: Über die Buchkunstbewegung im frühen 20. Jahrhundert müsste man eine Ausstellung machen! In der Universitätsbibliothek Heidelberg gab es lediglich Anfang der 1970er Jahre eine Ausstellung zur Buchkunst insgesamt, in der auch die modernen Drucke eine Rolle spielten, und gut 10 Jahre später war dort eine Wanderausstellung zur Buchkunst »Vom Jugendstil zum Bauhaus« zu Gast, bei der der Fokus aber auf den Illustrationen und nicht wie bei uns auf der Schrift lag. Mit diesem Konzept habe ich mich dann an die UB gewandt.

Sie führen die Ausstellung gemeinsam mit der Abteilung Historische Sammlungen der Universitätsbibliothek Heidelberg durch. Welche Leihgeber haben mit ihren Exponaten noch zum Gelingen der Ausstellung beigetragen?

Für die Unterstützung durch die Leihgeber sind wir besonders dankbar. Zu nennen ist zunächst das Gutenberg-Museum in Mainz, das auch Mitglied des Vereins für die Schwarze Kunst e.V. ist, dem ich vorstehe. Von ihm erhalten wir wichtige Drucke der englischen Kelmscott Press. Weitere zentrale Exponate erhalten wir von Eckehart Schumacher-Gebler, der 1992 die traditionsreiche Offizin Haag-Drugulin in Dresden erwarb und der auch Gründungsvater unseres Vereins ist, sowie von Dr. Wolfram Benda aus Bayreuth. Ferner ist die Staatliche Akademie der Bildenden Künste Stuttgart mit Leihgaben vertreten.

Weshalb war die Universitätsbibliothek Heidelberg ein geeigneter Partner für dieses Ausstellungsprojekt?

Meiner Kenntnis nach wurde in der Universitätsbibliothek Heidelberg in den 1970er Jahren damit begonnen, retrospektiv eine Sammlung von Kunstdrucken aufzubauen. Seitdem gibt es die Signatur KD bzw. KDR. Die wichtigsten Pressen mit ihren zentralen Drucken sind vertreten. Dieser große Fundus war ein geeigneter Anlass zu sagen: Das frühe 20. Jahrhundert war eine prägende Phase für die Entwicklung der Buchgestaltung. Es ist Zeit, diese Drucke einer breiteren Öffentlichkeit zu präsentieren.

Was macht die besondere Faszination der Zeit um 1900 in Bezug auf die Reform des Buchgewerbes aus?

Zum einen sind Anfang des 20. Jahrhunderts wunderbare Drucke der sogenannten Privatpressen entstanden, die ein zentraler Träger der Buchkunstbewegung waren. ›Privatpressen‹, dies zur Erläuterung, sind auf private Initiative entstandene Werkstätten ohne kommerziellen Hintergrund, die das Ziel hatten, schöne, handwerklich möglichst perfekte Drucke zu erzeugen. Klassischen Texten der Weltliteratur sollte damit eine adäquate Form verliehen werden. Die Zeit um 1900 war eine Gründungszeit des heutigen Gestaltungs- und Buchgewerbes: Verlage wie Insel, Kurt Wolff, Eugen Diederichs, Rowohlt, Fischer sind alle um diese Zeit entstanden. In Anlehnung an das englische Arts and Crafts Movement und den deutschen Werkbund ging es um die neuerliche Verbindung von Handwerk und Kunst sowie um eine zeitgemäße, werkgerechte Verarbeitung. Auch der Beruf des Herstellers und des künstlerischen Leiters kam erst in diesen Jahren auf. Man kann diese Zeit als goldenes Zeitalter der deutschen Typographie und Schriftgestaltung bezeichnen. Zwischen den vier Akteuren Schriftkünstler bzw. -gestalter, Schriftgießereien, Druckereien und Verlagen gab es einen intensiven Austausch, wie wir ihn uns heute kaum mehr vorstellen können. Viele der Betreiber von Privatpressen haben auch für die genannten Verlagshäuser der Zeit gearbeitet.

Was sind Highlights der Ausstellung?

Im Zentrum der Ausstellung stehen die Drucke der deutschen ›Privatpressen‹. Herausragend sind dabei die Drucke der Bremer Presse, der ›Königin der deutschen Privatpressen‹, sowie der Janus Presse und der Cranach-Presse. Von zentraler Bedeutung sind ferner zwei Leihgaben, die als Vorbilder für diese Privatpressen dienten. Zum einen ist das ein Druck der Kelmscott Press von William Morris mit den Werken von Geoffrey Chaucer – gewissermaßen die Inkunabel der gesamten Buchkunstbewegung schlechthin –, zum anderen eine Bibelausgabe der Doves Press. Auf diesen Druck sowie auf Werke der Inkunabelzeit, die wir ebenfalls zeigen, haben die deutschen ›Privatpressen‹ in typographischer Hinsicht besonderen Bezug genommen.

Wie war das Verhältnis der zentralen Akteure der Buchkunstbewegung zum technischen Fortschritt? War die Buchkunstbewegung eine Gegenbewegung zu der industriellen Produktion und Entfremdung der Moderne?

In den Kontext der Kritik an der Technikbesessenheit der Moderne gehört die Buchkunstbewegung durchaus. Es war eine Erneuerungsbewegung, die das Künstlerische wieder in die gewerbliche Produktion einbeziehen und damit, wie gesagt, zeitgemäße, dem Inhalt angemessene Bücher herstellen wollte. Die Akteure der Buchkunstbewegung waren nicht gegen technische Innovationen an sich. Sie waren keine Maschinenstürmer. Sehr wohl stellten Sie sich allerdings gegen eine gesichtslose Massenfertigung. Die Entfremdung von der Arbeit, die Verdrängung der Arbeiter durch technische Innovationen – dies alles sind Themen, die gerade jetzt auch wieder aktuell sind. Die Anregungen zur Buchkunstbewegung kamen aus Großbritannien. Die zentrale Figur war William Morris. Morris war nicht rückwärtsgewandt, er wollte die Zeit nicht zurückdrehen. Vielmehr war es sein Ziel, die Kunst mit dem Handwerk zu vereinen, dem Menschen wieder die Freude an der Arbeit zu vermitteln. Die Drucke seiner Kelmscott Press konnten sich zwar nur Wohlhabende leisten. Mittelbar, über seinen Einfluss auf andere ›Privatpressen‹ und damit auch auf bestimmte Verlage fand das schön gestaltete Buch auch als Gebrauchsbuch wiederum Eingang in den Massenmarkt.

Welche Inhalte wurden in dieser neuen Form vermittelt?

Die ‹Privatpressen‹ verwendeten in der Regel klassische Texte, auch weil sie nur in kleiner Auflage druckten: antike Autoren, Texte der Bibel, Dante, Goethe, Schiller, Shakespeare. Das Ziel bestand darin, perfekte Inhalte mit einer perfekten Gestaltung zu verbinden. Den klassischen Texten sollte ein ihnen angemessenes Gewand gegeben werden. Vereinzelt wurden auch zeitgenössische Texte, etwa von Rilke oder Hauptmann, gedruckt. Die Verlage der Buchkunstbewegung, also v.a. Diederichs und Insel, publizierten natürlich das gesamte literarische Spektrum ihrer Zeit, mit jeweiligen Schwerpunkten.

Wie erklären Sie sich in Zeiten des elektronischen Publizierens die ungebrochene Faszination des gedruckten Buchs?

Der Mensch ist ein sensuelles Wesen. Wir sehen, hören, riechen und fühlen. Das alles bietet die digitale Technik nicht. Wir wischen über ein Tablet, wir sehen und hören etwas, wir fühlen und riechen aber nichts. Das Buch ist ein sehr komplexes Medium, dessen sinnliche Wahrnehmung eine andere, intensivere inhaltliche Rezeption ermöglicht. Das Denken und die Erinnerung werden angestoßen. Davon abgesehen muss man nur einmal in eine Druckwerkstatt gehen, die noch im traditionellen Buchdruck arbeitet. Dort kann man – im Gegensatz zum digitalen Publizieren – den gesamten Prozess der Herstellung erleben. Vor allem Kinder kriegen sie nach kurzer Zeit dort nicht mehr weg, aber auch Graphikstudenten sind schnell fasziniert.

Wie lesen Sie selbst: print oder online?

Ich liebe Bücher, allerdings nur gut hergestellte. Daher lese ich natürlich vorzugsweise schön gestaltete und gebundene Bücher. Allerdings nutze ich auch intensiv digitale Quellen, etwa für die Recherche, zum schnellen Nachschlagen. Beide Formen bieten ihre spezifischen Vorteile, sie schließen sich für mich nicht aus, sondern ergänzen sich. Aufgrund dieses Zusammenspiels hat die UB neben der Präsentation der Drucke in den Ausstellungsräumen auch eine virtuelle Ausstellung erarbeitet. Sie eignet sich vor allem anhand der zahlreichen Digitalisate, die extra im Rahmen der Ausstellung erstellt wurden, sowohl als ›Appetitanreger‹ zur Vorbereitung eines realen Besuchs als auch zur Vertiefung danach.

VITA
Studium der Klassischen Archäologie, Kunstgeschichte und Christlichen Archäologie in Bonn und Heidelberg. 2003 Promotion in Heidelberg. Seit 2009 freiberuflich tätig in den Bereichen Lektorat, Satz und Layout. Seit 2013 Inhaber der Buch- und Offset-Druckerei ›AK Werkstatt für handwerkliche Druckkunst‹ in Mannheim. Vorsitzender des ›Vereins für die Schwarze Kunst e. V.‹. Lehraufträge unter anderem an der Universität Heidelberg zu den Themen Wissenschaftliche Textgestaltung und Typographie sowie Durchführung von Bleisatz-Workshops an der Hochschule Mannheim.

Bei Bedarf führt Dr. Franssen gerne durch die Ausstellung. Anfragen können an info@ak-druckkunst.de gesandt werden.

Dieses Interview wurde auf dem Blog der Universitätsbibliothek Heidelberg am 26.04.2018 erstmals veröffentlicht und ist hier mit der ausdrücklichen Genehmigung von Dr. Franssen nochmals wiedergegeben. Das Gespräch führte Martin Nissen.